Der Begriff 'Universität' bezeichnet im 12. Jahrhundert eine Gemeinschaft oder Vereinigung von Magistern und Studenten. ‘Universita’ nannte man die Körperschaft, die das Studium trug [50], jedoch nicht ein Gebäude, denn der Unterricht fand entweder in den Privathäusern der Magister oder in öffentlichen Gebäuden wie Kirchen statt. Ob die Lehrinstitute schon wirklich eine Universität im heutigen Sinn waren – oder eher eine Privatschule, in denen ein (Rechts-)Gelehrter mit seinen Schülern individuelle Vereibarungen traf und für den Unterricht von ihnen ein Honorar erhielt [51], hängt von den Beurteilungskriterien ab. So wird bezweifelt [51] dass die Universität Bologna bereits 1088 gegründet wurde, da es dort vor 1180 noch keine korporativen Strukturen gab. Aber erstens gibt es nicht das Kriterium, ‘nach dem generell zwischen Universität und Nicht-Universität unterschieden werden könnte’ [52] und zweitens kann man davon ausgehen, dass der Wandel von Privatschulen zu eigentlichen Universitäten sich über mehrere Jahre wenn nicht Jahrzehnte hingezogen hat.
Da es also zur Zeit des Studiums meiner Protagonistin noch keine einheitliche, alle Fakultäten umfassende Universität gibt, sondern verschiedene Universitäten oder Schulen gibt es auch nicht nur einen Rektor. Eine Besonderheit ist, dass die Rektoren nur den Grad eines Bakkalarius hatten. Das liegt an der Form der Universität. Die italienischen Universitäten waren – nach dem Vorbild in Bologna – sogenannte Studentenuniversitäten [51]. Das Sagen hatten die Studenten und so wurden auch die Schulen von Studenten, eben Bakkalaren, geleitet.
Wichtiger als die zeitliche Entstehung der Universitäten scheint mir Art und Inhalt der wissenschaftlichen Lehre – sei es nun an Privatschulen oder Universitäten. Der Student wurde eingeführt in die Tradition eines Wissens, das anerkannte Autoritäten angehäuft und kommentiert hatten, und zwar auf eine Weise, die in jeder Universität zwischen Salamanca und Kopenhagen vergleichbar war [51]. So musste zunächst ein Grundstudium in den sogennanten artes liberales, den ‘freien Künsten’, absolviert werden. Der erste Teil des Studiums bildete das Trivium, das die drei sprachlichen Fächer Grammatik, Rhetorik und Logik umfasste. Daran schloss sich das Quadrivium an, in dem die Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik gelehrt wurden. Im Laufe der Zeit wurden sie ergänzt um Vorlesungen über die Naturphilosophie, Ethik und Metaphysik[51]. Abgeschlossen wurde das Studium der Artes mit dem Bakkalaureat, das eher mit dem heutigen Abitur als mit einem Bachelor zu vergleichen ist. Erst nach dem Abschluss des Studiums der Artes konnte ein Studium der Rechte, der Medizin oder der Religion begonnen werden. Wenn jemand Doktor des Rechts in Bologna wurde, d.h. zur 'Gilde der Lehrenden' gehörte, so durfte er auch an allen anderen Universitäten und Schulen lehren [53], war aber verpflichtet zunächst einige Jahre in Bologna zu bleiben.
Das Studienjahr begann in Bologna mit einer Messe des Heiligen Geistes am Sankt Lukas Tag, d.h. am 19. Oktober und dauerte bis zum 7. September des Folgejahres; es gab 10 Tage Ferien an Weihnachten und 14 Tage an Ostern und drei Tage an Fasnacht [53]. Zudem war jeder Donnerstag vorleseungsfrei, wenn in der Woche kein Feiertag war; allerdings konnten Repetitionen und Disputationen stattfinden.
Im hohen Mittelalter drücken die Titel Magister, Doktor und Professor keine Rangfolge aus. Eher wurden die Bezeichnungen für die unterschiedlichen Wissenschaftszweige verwendet. Die Lehrer an der Rechtsschule von Bologna wurden Doktoren oder Professoren genannt aber nicht Magister, während die Lehrer der Artes liberales Magister und nicht Doktor oder Professor genannt wurden [53]. Ausserhalb der Universität wurden die Bezeichnungen völlig willkürlich verwendet.
Die erste Frau, die in den Annalen der Universität von Bologna erwähnt wird, ist Dota d’Accorso, die Tochter des Rechtsgelehrten Accursius, die promoviert und zum öffentlichen Lehramt zugelassen worden war [54]. Accursius hat von 1182-1258 gelebt, seine Tochter lehrte vielleicht Anfang des 13. Jahrhunderts in Bologna. Mehr Informationen finden sich über Bettisia Gozzadini (1209 – 1261). Gemäss Umberto Eco [55] war sie die erste Juristin an der Universität von Bologna. Leider verstarb sie früh. Zusammen mit zwei anderen Frauen und vier Studenten ertrank sie, als eine Überschwemmung der Idice das Haus, in dem sie lehrte zum Einsturz brachte. Es gab eine allgemeine Trauer in der Stadt, und die Schulen wurden geschlossen. Über weitere Professorinnen im hohen Mittelalter ist nichts bekannt.
Obwohl sie erst ein halbes Jahrhundert nach meiner Protagonistin geboren wurde, habe ich sie als Vorbild genommen für die Figur der Bettisia Corradini. Da die Quellenlage über die Lehre von Frauen sehr dünn ist und, wie oben gezeigt, das 12. Jahrhundert in vielen Belangen ein offenes war, wäre es durchaus möglich, dass meine Bettsia in Wirklichkeit die erste Rechtsgelehrte in Bologna war. Zumal, die Bindung an den Magister das letzten Endes einzige, ernshafte Kriterium für eine Aufnahme in die Universtiätsgemeinschaft war [51].
Was war Bologna für eine Stadt?