Sexualität

Anhand überlieferter Bussbücher, in denen für jede Sünde die entsprechende Strafe verzeichnet war, lässt sich die (versuchte) Einflussnahme der Kirche auf die Sexualität gut belegen: die auf die Ehe bezogenen Teile waren besonders umfangreich [34]! Gemäss der Bussbücher diente der Beischlaf einzig der Zeugung von Nachkommen – das Erleben sinnlicher Lust als schwere Schuld. Zur Eindämmung der bösen Begierde schrieben die Bussbücher genau vor, wann die geschlechtliche Vereinigung der Eheleute streng untersagt war: vierzig Tage vor Weihnachten, in der Fastenzeit vor und an Ostern, generell alle Nächte zum Samstag und Sonntag, mindestens aber zum Sonntag – zusammengerechnet an die zwei Drittel des Jahres [34]. Hinzu kamen für die Frauen noch die Zeit während der Menstruation, der Schwangerschaft und vierzig Tage nach der Geburt eines Kindes – sofern es ein Junge war. War es ein Mädchen, war Geschlechtsverkehr für achtzig Tage untersagt.

 

Für Homosexualität hatte man im Mittelalter keinen Begriff [35]. Homosexualität war eine Ausprägung der ‘Sünde wider die Natur’, die Sodomie genannt wurde. Als Sodomie wurde jede Art der Sexualität bezeichnet, die keine Zeugung bezweckte [35] – dazu gehörten ebenso Onanie, wie Oral- und Analverkehr. Enge und liebevolle Beziehungen zwischen Männern waren akzeptiert, eine tiefe, leidenschaftliche Freundschaft wurde hochgehalten – dass sie (auch) sexueller Natur sein konnte, hat man nicht angenommen oder hielt es nicht für wichtig [35]. Während Homosexualität im späteren Mittelalter nicht selten mit dem Tod bestraft wurde, ging man im hohen Mittelalter mit diesem 'Laster' offenbar eher gelassen um [2]. Homosexualität, wie auch Onanie, galten vornehmlich als gesundheitsschädlich und weniger als eine Gefahr für die Gemeinschaft. Da das Zusammenleben junger unverheirateter Männer und Frauen, z.B. auf der Burg, homosexuelle Kontakte eher begünstigt, sah man diese Verfehlung als eine auf das Fleischliche ausgedehnte Form der Freundschaft an [2].

 

Die Kirche bemühte sich zwar, Sexualität als grösste Gefahr für das Seelenheil hinzustellen, aber es gab durchaus auch andere Ansichten. So empfehlen Schriften aus dem 11. Jahrhundert Geschlechtsverkehr als medizinisches Heilmittel und geben sogar Tipps, wie auch die Frau dabei auf ihre Kosten kommt [36]. Die gesundheitsfördernde Wirkung des Beischlafs beruhte auf dem Glauben an die ‘Zwei-Samen-Lehre’, die davon ausging, dass sowohl männlicher als auch weiblicher Samen für die Empfängnis notwendig seien [35], also nicht nur der Mann sondern auch die Frau ejakuliere.

 

Da jeder Geschlechtsverkehr allein der Zeugung dienen sollte war Empfängnisverhütung ein sündhaftes Tun [34], denn der männliche Samen durfte nicht verschwendet werden. So galt die Unterbrechung des Geschlechtsverkehrs vor dem Samenerguss als Sünde gegen die Natur – sie dürfte die gebräuchlichste Methode der Empfängnisverhütung gewesen sein [34]. Kondome gab es noch nicht. Aber neben einiger fragwürdiger Methoden wie z.B. beim Koitus den Atem anzuhalten, anschliessend gleich aufzustehen, sich niederzuhocken, heftig zu niessen und sich dann die Genitalien zu waschen oder einem männlichen Wiesel die Hoden zu entfernen, diese in die Haut einer Gans einzuwickeln und um den Hals zu tragen [37], gab es solche, deren kontrazeptive Wirkung in der Neuzeit nachgewiesen werden konnte. Dazu gehören zum Bespiel Scheideneinlagen, die in verschiedenen Substanzen getränkt wurden [37]. Wolle wurde z.B. in Wein getränkt, in dem zuvor Pinienrinde und der Gerbstoff des Färberbaumes aufgelöst worden waren und dann in die Scheide eingeführt. Auch pflanzliche Verhütungsmittel, die als Trank eingenommen wurden, waren verbreitet – und nützlich. Für den Sud von Weidenblät­tern, die gekocht und dann mit Honig gesüsst wurden, konnte nachgewiesen werden, dass das in der Weide enthaltene Östriol den Einsprung verhindert [37]. Auch galt die Menstruation als relativ sichere Zeit um nicht schwanger zu werden – allerdings tabuisiert von Juden- und Christentum. Nach Ansicht der Kirche(n) konnte eine Frau nämlich auch während der Menstruation ein Kind empfangen, dass dann missgebildet und mit Krankheiten (wie der Lepra) zur Welt komme [37].

 

Was aber tun, wenn trotzdem eine ungewollte Schwangerschaft eintrat? Die örtliche Flora bot auch dafür einiges, unter anderem Petersilie, Gartenraute und Sade [38]. Der Sadebaum wuchs in vielen Gärten und man kannte die abortive Wirkung der Pflanze. Um seine Anpflanzung zu verharmlosen erklärte man, dass die jungen Mädchen daraus einen Absud bereiten konnten, um mangelhafte oder ausgebliebene Menstruation anzuregen [39]. Natürlich stand ein Schwangerschaftsabbruch unter Strafe. Aber da ein wesentlicher Punkt der Zeitpunkt der ‘Beseelung’ war (man nahm an, dass Gott männlichen Föten ab dem vierzigsten, weiblichen ab dem achtzigsten Tag eine Seele schenkte), war die Beurteilung einer Abtreibung schwierig: denn erst wenn ein Fötus beseelt war, galt sie als Mord [34].

 

Doch wer sprach darüber Recht?

 

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